Extremsport Zaunen
Mein Bruder und ich haben viel Erfahrung mit Bergwandern. Unser süsser Paps war ein begeisterter Wanderer und Mitglied der Naturfreunde. Und so bestiegen wir an den Wochenenden und in den Ferien gefühlt alle Gipfel in der Schweiz. Schon im zarten Alter von 5 Jahren stand ich auf dem Flüela Schwarzhorn (3146 m). Auch in der Pubertät folgten wir schlechtgelaunt den gelben Wegweisern, während sich unsere Klassenkameraden in Rimini in die Wellen warfen. Nein, nein, ich heische nicht nach Applaus. Rückblickend bin ich Paps dankbar. Der selbstbeweihräuchernde Einstieg soll lediglich aufzeigen, dass ich durchaus beurteilen kann, was das «Zaunen» hier oben bedeutet. Neben dem Ausmisten und dem Heuen ist es eine der körperlich anstrengendsten Arbeiten. Und trotzdem freue ich mich immer riesig darauf. Vermutlich etwa so wie ein Teenie, der sich zum ersten Mal in Rimini in die Wellen werfen darf.
741 Höhenmeter
Konkret geht es darum, Elektrozäune um Weiden zu ziehen. Einem ausgeklügelten Plan folgend werden die Kühe von der Alp dil Plaun (1962 m) von einer Weide zur nächsten geführt, um am Schluss in ihrem Stall in Scheid (1221 m) anzukommen. Auf jeder Weide dürfen sie sich jeweils am frischen Gras gütlich tun, bis kein Halm mehr steht. Dann ziehen sie weiter. Und logischerweise müssen die Elektrozäune bereit sein, bevor die Kühe kommen. Inzwischen habe ich meine Lieblingszaunstrecken. Je steiler der Hang, je grösser das zu umzäunende Gebiet und je anspruchsvoller der Untergrund, umso besser. Da schlägt halt dann doch das Bergsteigerherz meines Vaters in mir.
Wie Hänsel und Gretel
An diesem Tag ist eine dieser Lieblingszaunstrecken an der Reihe – Hurra. Ausgerüstet bin ich wie eine Bergwanderin: Wanderschuhe, lange Hosen, Rucksack. Doch damit hören die Gemeinsamkeiten schon auf. Beim Zaunen folgen wir keinen ausgetretenen Wanderwegen, sondern den Isolatoren. Wie Hänsel und Gretel sich einst an den Brotkrumen orientierten, suchen unsere Blicke stets die nächsten Isolatoren. Diese sind in Baumstämme oder in Holzpfosten geschraubt.
Und in meinem Rucksack befindet sich kein Proviant, sondern …?
Richtig: Isolatoren. Du hast scharfsinnig mitgedacht, Kompliment. Damit ersetzen wir defekte oder verschwundene … eben Isolatoren. In meiner Hand halte ich keinen Wanderstock, sondern eine schwere Spule mit Weidezaundraht. Und weil das einzuzäunende Landstück viel zu gross ist, hänge ich eine weitere schwere Spule um die Schulter. Mein Arbeitskollege Johann schleppt Ersatzpfosten und eine Axt mit. Mit der Axt schlägt er lose Pfosten ein oder er spitzt damit einen Ast aus dem Wald zu und macht daraus einen neuen Holzpfosten. Meine Aufgabe besteht darin, das Zaunband von Isolator zu Isolator zu spannen und daran zu befestigen.
So beladen machen wir uns schwer bepackt auf den steilen Weg von oben nach unten und auf der anderen Seite der Weide wieder hoch, quer durch den steilen Wald, über Wurzeln und Steine, durchs Gebüsch und über Bäche. Vorsicht ist geboten, weil wir idealerweise nicht ausrutschen oder umfallen sollten. Nebst einer guten Kondition setzt dieser Extremsport Geschicklichkeit, Orientierungssinn und einen sicheren Tritt voraus. Und um zum anfänglichen Vergleich zurückzukehren: Gegen diese Arbeit ist eine Bergwanderung (… sorry …) ein gemütlicher Sonntagsspaziergang.
Ein paar Stunden später treffen wir erschöpft, aber zufrieden wieder am Ausgangsort ein. Die Weide ist eingezäunt, die Kühe können kommen. Einfach zauntastisch.